Was Selfcare wirklich bedeutet – jenseits der perfekten Morgenroutine

Was Selfcare wirklich bedeutet – jenseits der perfekten Morgenroutine

Wir alle kennen diese Bilder: eine dampfende Tasse Zitronenwasser, ruhige Hintergrundmusik, jemand meditiert auf einem Leinenkissen, dann Yoga und Sport, Journaling, kalt duschen, Nahrungsergänzungsmittel, um am Ende noch vor 7 Uhr morgens am Schreibtisch zu landen. Alles wirkt ruhig, kontrolliert, durchgetaktet – eben eine „perfekte“ Morgenroutine.

Und dann fragt man sich selbst:
Warum kriege ich das nicht hin?
Warum bin ich schon gestresst, bevor der Tag richtig begonnen hat?
Warum wirkt bei mir nichts so ästhetisch, fokussiert und klar?

Versteht uns nicht falsch. Nichts an den oben genannten Punkten ist falsch, alles davon kann seine Berechtigung finden. Es sollte jedoch immer um die Fragen gehen: Was tut mir wann und wo gut? Hier beginnt die Reise zu echter Selbstfürsorge.

Zwischen Ideal und Realität

Social Media zeigt oft eine stark idealisierte Version von Selfcare – die perfekte Morgenroutine wird zum Symbol eines optimierten Lebens. Statt zu entlasten, erzeugt sie häufig subtilen Druck: „Ich sollte…“, „Ich müsste…“, „Alle anderen…“

Studien zeigen, dass diese Vergleiche mit idealisierten Darstellungen auf Social Media das eigene Stresserleben deutlich verstärken können. Besonders bei ohnehin überforderten Menschen entsteht ein Gefühl von Unzulänglichkeit – und das obwohl Selfcare eigentlich genau das Gegenteil bewirken sollte.

Was Selfcare nicht ist

  • ein ästhetisches Ritual für Social Media

  • ein Punkt auf deiner To-do-Liste

  • ein Wettbewerb im „achtsam sein“

  • ein Wellnessprodukt

Wenn Selbstfürsorge zum Pflichtprogramm wird, kann sie sogar zusätzlichen Stress erzeugen – so paradox das klingt. Der Druck, sich zu „entspannen“ oder achtsam zu sein, führt oft zu Frustration statt Erholung.

Was Selfcare hingegen wirklich bedeutet

Selfcare ist kein Trend, sondern ein individueller, ganzheitlicher Prozess. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert sie als die Fähigkeit, für die eigene körperliche, psychische und soziale Gesundheit zu sorgen – durch alltägliche, selbstbestimmte Handlungen.

Das bedeutet:

  • deine Bedürfnisse wahrnehmen (körperlich, emotional, geistig)

  • dein Nervensystem beruhigen, nicht zusätzlich reizen

  • dich selbst mit Mitgefühl statt Kritik begleiten

  • innere Sicherheit und Regeneration ermöglichen

Die körperliche Seite: Dein Nervensystem als Kompass

Wirkungsvolle Selbstfürsorge beginnt im Körper – genauer gesagt: in deinem autonomen Nervensystem. Der zentrale Akteur dabei ist der Vagusnerv. Er beeinflusst Herzfrequenz, Verdauung, Atmung, emotionale Regulation und deine Fähigkeit zur Entspannung.

Was laut Forschung konkret helfen kann:

  • tiefe, bewusste Atmung (z. B. 4-7-8-Methode)

  • sanfte Berührung – z. B. durch Akupressur

  • Zeit in der Natur

  • soziale Nähe (Oxytocin-Ausschüttung)

  • achtsame Rituale ohne Leistungsdruck

Selbst 10–15 Minuten bewusste Ruhe täglich können dein Stresslevel spürbar senken – langfristig genauso wirksam wie strukturierte Entspannungsprogramme.

Die psychische Seite: Achtsamkeit und Selbstmitgefühl

Viele denken bei Selfcare an äußere Rituale – dabei ist der innere Dialog entscheidend. Echte Fürsorge beginnt damit, deine Gedanken und Muster zu erkennen:

  • „Ich muss funktionieren“

  • „Ich darf nicht schwach sein“

  • „Ich bin nur dann gut genug, wenn ich …“

Selbstmitgefühl hilft, diese inneren Antreiber zu hinterfragen und sich mit mehr Wärme und Akzeptanz zu begegnen. Studien zeigen: Menschen mit hohem Selbstmitgefühl erleben weniger Stress, weniger Angst – und mehr emotionale Stabilität.

In der Realität kann Selfcare ganz konkret bedeuten, ...

  • nein zu sagen (auch wenn’s schwer fällt)

  • auf dem Sofa zu liegen ohne schlechtes Gewissen

  • den Spaziergang abzubrechen, weil du müde bist

  • den Wecker später zu stellen

  • dich nicht erklären zu müssen

Es geht nicht darum, alles im Griff zu haben.
Sondern darum, dich nicht selbst zu übergehen.
Nicht perfekt – aber echt.

Fazit

Selfcare ist kein Trend, sondern eine Haltung.
Sie beginnt nicht um 5 Uhr morgens, sondern in dem Moment, in dem du ehrlich zu dir bist. Sie muss nicht hübsch aussehen, um wirksam zu sein.

Du darfst einfach du sein.
Und dich darin wiederfinden, was dir wirklich gut tut.

Verwendete Quellen

  1. Hess, R. et al. (2021): The paradox of wellness: How self-care culture can increase psychological pressure. Journal of Mental Health, 30(4), 456–462.

  2. APA (2022): Social Media and Mental Health. American Psychological Association.

  3. WHO (2022): Self-care interventions for health. World Health Organization Guidelines.

  4. Porges, S. W. (2011): The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, and Self-Regulation. Norton.

  5. Neff, K. D. & Germer, C. K. (2013): The Mindful Self‐Compassion Program. Journal of Clinical Psychology, 69(1), 28–44.

  6. Kabat-Zinn, J. (2003): Mindfulness-based interventions in context. Clinical Psychology: Science and Practice, 10(2), 144–156.

  7. Ulrich, R. S. et al. (1991): Stress recovery during exposure to natural and urban environments. Journal of Environmental Psychology, 11(3), 201–230.

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